Elemente ignatianischer Spiritualität

 

Die Welt ist Gottes so voll.
Aus allen Poren der Dinge quillt er gleichsam uns entgegen.


Das schrieb nicht jemand in einem Überschwang idyllischer Romantik, sondern mit gefesselten Händen ein zum Tod verurteilter Gefangener, der Jesuit Pater Alfred Delp. Er formuliert damit ein zentrales Anliegen ignatianischer Spiritualiät, die feste Überzeugung: Gott ist überall da. Sprichwörtlich überall und in jedem Moment—Gott, die mächtige Wirklichkeit und ohnmächtige Liebe, in Freud und Leid, im Leben und Sterben, im Beruf, in unseren Beziehungen, in Kunst und Kultur, im intellektuellen Reflektieren, kurzum in der ganzen Schöpfung.

 

Gott in allem entdecken

Das ist so radikal anders, als sich der moderne Mensch selber erlebt—dort ist Gott fern vom Alltag, und falls Worte wie Gott fallen, dann sind die, die davon sprechen, höchst verdächtig—Gott, ein Wort, so oft missbraucht, so schal. Aber das Anliegen, Gott überall als anwesend und wirksam zu erspüren, besonders im eigenen Leben, in jedem Augenblick, ist zutiefst ein Anliegen von Ignatius. Für ihn bieten sich die Dinge der Welt nur deswegen dar, damit wir Gott noch leichter erkennen können und um so bereiter werden, in Liebe darauf zu antworten. Ignatianische Spiritualität legt ein großes Gewicht darauf, Gott zu erkennen in den alltäglichen Verrichtungen unseres Lebens, unserer Biografie. Gott ist das aktive und lebendige Prinzip in unserem Lebensstrom, ist die tiefe Anfrage und Einladung zu einem gemeinsamen Weg zu uns selbst hin, zu dem, der wir sein können und sollen—nur wir und niemand sonst.

 

Das eine ist mir so klar und spürbar wie selten:
Die Welt ist Gottes so voll.
Aus allen Poren der Dinge quillt er gleichsam uns entgegen.
Wir aber sind oft blind.
Wir bleiben in den schönen und bösen Stunden hängen
und erleben sie nicht durch bis an den Brunnenpunkt,
an dem sie aus Gott herausströmen.
Das gilt für alles Schöne und auch für das Elend.
In allem will Gott Begegnung feiern
und fragt und will die anbetende, hingebende Antwort.
Die Kunst und der Auftrag ist nur dieser, aus diesen Einsichten und Gnaden
dauerndes Bewusstsein und dauernde Haltung zu machen
und werden zu lassen.
Dann wird das Leben frei in der Freiheit, die wir immer gesucht haben.

 

Am 17. November 1944 auf einen Kassiber von Alfred Delp mit gefesselten Händen geschrieben aus seiner Zelle im Gefängnis Berlin-Tegel. Nach seinem Tod am 2. Februar 1945 wurde seine Asche auf persönlichen Befehl Hitlers in alle Winde zerstreut.

 


Grundworte ignatianischer Spiritualität

 

Der Weg

Wenn man die ignatianische Spiritualität mit einem einzigen Wort charakterisieren wollte, wäre das Wort „Weg“ dafür sehr zutreffend.

Ignatius selbst versteht und bekennt sich als „Pilger“. Seinen Lebensweg vom Karrieristen am Hof bis zum Mystiker, der durch einige Tiefen und Höhen zu einer tiefen Gottverbundenheit geführt wird, sieht er als pilgerndes Unterwegssein. Typisch für ihn, dass er Briefe immer wieder einfach mit „der Pilger“ unterschreibt. Sein innerlicher Weg findet Niederschlag im Exerzitienbuch, in den „Geistlichen Übungen“. Ignatianische Spiritualität ist wesentlich Geistliches Leben im Prozess. Biografische Entwicklung und geistlicher Weg sind wesentlich aufeinander bezogen.

 

Gott in allem suchen und finden

Ein Schüler fragt seinen Rabbi: Sag mir, wo Gott ist! Darauf antwortet der Rabbi: Sag mir, wo Er nicht ist! Der Beitrag von Ignatius zur Frage des Menschen, wo Gott sei, liegt in den Worten: Gott in allen Dingen suchen und finden. Studierenden schrieb Ignatius, sie sollten sich üben, die Gegenwart Gottes in allen Dingen zu suchen, im Sprechen, im Gehen, Sehen, Schmecken, Hören, Denken, überhaupt in allem, was sie tun. . . Ignatius hat diese geistliche Erfahrung gemacht, und er versucht, seine jungen Mitbrüder dafür zu gewinnen. Es ist als wollte er sagen: Es geht, ihr werdet sehen; haltet auch offen dafür, es kann euch ein Augenblick dieser geistlichen Erfahrung geschenkt werden, der dann euer ganzes Leben tragen wird. In jedem Menschenantlitz, in jedem Gespräch, im Dunkel und im Licht, in der Freude und in der Not menschlichen Lebens, in der Nähe Gottes und seiner Ferne – in allem Gott.

 

Sehnsucht

Alles beginnt mit der Sehnsucht. Die Wahrheit dieser Worte von Nelly Sachs können wir leicht an uns selbst überprüfen. Es gibt nichts Langweiligeres als ein Mensch, der sich nach nichts sehnt. Für Ignatius ist es wichtig, wenigstens mit der Sehnsucht nach der Sehnsucht anzufangen. Der heilige Augustinus bezeichnet einmal die Sehnsucht nach Gott als das immerwährende Gebet, und schreibt das einfache, große Wort: Die Sehnsucht Gottes ist der lebendige Mensch. Die Sehnsucht ist der Ort, wo sich Gott und Mensch begegnen.

 

Großmut

ist die Basis für Geistliche Übungen. Kleinlichkeit und Engherzigkeit sind schlechte Voraussetzzungen nicht nur für die Begegnung mit Gott, sondern auch mit Menschen. Je mehr Vorbehalte gemacht werden, je mehr Wenn und Aber in das Gespräch eingebracht werden, je mehr jeder Partner auf Absicherungen bedacht ist, desto schwieriger kommen es zu einer Begegnung und einem Wachsen  der Beziehung. Die höfische grandezza des ritterlichen Ignatius prägt auch sein geistliches Leben. Wie sieht Großmut aus? Thomas von Aquin definiert die Großmut als das Ausgeweitet-Sein der Seele auf das Große hin. Gerade der Blick auf den großen Gott, der in reichem, vollem, gehäuftem, überfließendem Maß gibt (Lukas 6,38), schließt das menschliche Herz auf, selbst weit und groß zu werden. So wie der Blick auf ein gewaltiges Gebirge, eine weite Landschaft oder das unendliche Meer uns weit machen kann, so noch mehr, wenn wir auf Gott schauen, der über alle Vorstellungen hinaus groß ist und der unendlich viel mehr gibt, als wir erbitten und erdenken vermögen (Epheser 3,20). Umgekehrt gilt aber ebenso: Durch die Menschwerdung Gottes ist unser Menschsein geheiligt. Wir müssen nach keinen anderen Leben schielen. Erfüllung können wir in den Grenzen unserer Lebenszeit, trotz unserer Schwächen und sogar trotz unserer Schuld finden.

 

Dankbarkeit

Undank ist der Welten Lohn, sagt eine alte Volksweisheit. Sie drückt eine nicht seltene Erfahrung aus: Eine freundliche Geste wird nicht beachtet; auf ein Geschenk hin bleibt ein „Danke“ aus; jahrelanger Dienst findet kein Wort der Anerkennung. Für Ignatius ist die Undankbarkeit nicht nur der „Lohn der Welt“, sondern weit mehr: die Wurzel aller Übel. Wie kommt Ignatius dazu, Undankbarkeit als die Quelle alles Bösen anzusehen? Dieser Aussage liegt die Glaubenserfahrung, das mystische Erleben zugrunde, dass Leben zuinnerst Liebe ist. Und Liebe ist gegenseitiges Geben und Empfangen. Das Leben Gottes selbst ist ewiges Sich-Verschenken und Sich-Empfangen. Vor diesem Hintergrund ist Undankbarkeit letztlich die Weigerung, sich zu empfangen und zu schenken. Undankbarkeit ist die Blockade gegenüber dem Verströmen des Liebens und Schenkens.

 

Indifferenz

Man solle vor allem in der Politik niemals „nie“ sagen, heißt es. Ein Grundsatz, der Ignatius mit seiner „elastischen Spiritualität“ durchaus lag. Aber zumindest einmal sagte er ausdrücklich „niemals“ nämlich in einem seiner Merksätze:

Wahr dir in allen Dingen die Freiheit des Geistes. Schiele in nichts auf Menschenrücksicht, sondern halte deinen Geist innerlich so frei, dass du auch stets das Gegenteil tun könntest. Lass dich von keinem Hindernis abhalten, diese Geistesfreiheit zu hüten. Sie gib niemals auf.

 

(Geistliche Briefe)

Wenn Ignatius von „Indifferenz“ spricht, dann  meint er immer diese „Freiheit des Geistes“, diese „Freiheit zum Gegenteil“, das „geistliche Gleichgewicht“. Indifferenz bedeutet im normalen Sprachgebrauch eher „Gleichgültigkeit“. Ignatius dagegen meint mit Indifferenz keine lahme Gefühlslosigkeit gegenüber Werten. Indifferenz ist nur zu verstehen als Ausdruck der Liebe, die „zu allem bereit“ ist: „Ich will dir folgen, wohin du auch gehst“ (Mt 8,19). Absolut also ist nur die Liebe. Sie hat absolute Priorität. Auf sie hin ist alles bezogen, und alles bekommt von ihr her Gewicht und Wertigkeit.

Ein Zitat von Max Frisch kann helfen, den wahren Sinn von Indifferenz zu erfassen:

 

Eben darin besteht die Liebe, das Wunderbare an der Liebe, dass sie uns in der Schwebe des Lebendigen hält, in der Bereitschaft, einem Menschen zu folgen in allen seinen möglichen Entfaltungen.

 

Indifferenz ist die „Schwebe des Lebendigen“, in der uns die Liebe hält.

 

Unterscheidung der Geister

Die Unterscheidung der Geister ist keine ignatianische Sonderlehre. Sie gründet in der Heiligen Schrift und hat eine lange Tradition in der Geschichte der Spiritualität.

Programmatisch hierfür ist die biblische Szene der Versuchung Jesu in der Wüste. Jesus und der Versucher zitieren die Heilige Schrift. Die Unterscheidung, ob das Wort im richtigen Sinn verwendet ist oder nicht, fällt nicht auf der Ebene der bloßen Worte, sondern des geistlichen Gespürs. Es ist letztlich Gottes Geist selbst, der im Menschen die Unterscheidung trifft.

Zur Urerfahrung der Unterscheidung gehört die Liebe. Sie ist das entscheidende Kriterium. Prophetische Rede, sozialer Einsatz für Unterdrückte und Arme oder sogar die Selbst-Hingabe bekommen ihren eigentlichen Wert erst durch die Liebe (vgl. 1 Kor 13). Die Liebe ist die erste Frucht des Geistes: „Die Frucht des Geistes aber ist Liebe, Freude, Friede, Langmut, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut und Selbstbeherrschung“ (Gal 5,22). Alles Unterscheiden im biblischen Sinne steht unter der universalen, paulinischen Losung: „Prüfet alles, das Gute behaltet!“ (1 Thess 5,21).

Für Ignatius waren die Wochen auf dem Krankenlager in Loyola von entscheidender Bedeutung. Als er mit seiner schweren Verletzung darniederlag, machte er in seinem Inneren die Entdeckung, dass es Gedanken gab, die ihn wie ein Strohfeuer nur kurze Zeit befriedigten und andere, wenn er z.B. über das Leben von Heiligen nachgedacht hatte, die in ihm eine tiefe tröstende Zufriedenheit auslösten. Später waren es dann die Erfahrungen von Manresa mit ihren Tiefen und Höhen, die für die Herausbildung seiner Regeln von der Unterscheidung der Geister ausschlaggebend waren. Diese Regeln sind in seinem Exerzitienbuch zusammengetragen und helfen dem, der Exerzitien macht, über Trosterfahrungen herauszufinden, was der spezielle, individuelle Wille Gottes für ihn sei.

 

Magis

Das lateinische Wörtchen magis (mehr) hat bei Ignatius eine fundamentale Bedeutung. Oft gebraucht er es, wenn er in der Steigerungsform spricht: „zur größeren Ehre Gottes“ oder „sich gegenseitig mehr helfen und nützen“ usw. Magis ist nicht gemeint als Ansporn zu immer mehr Leistung. Wir verstehen es im spirituellen Sinne recht, wenn wir es von der Liebe her deuten. Liebe ist kein stehendes Gewässer, kein Tümpel, keine Zisterne, die leergepumpt wird. Liebe läuft nicht aus, sondern über. Teresa von Avila drückt dasselbe einmal sehr plastisch aus: Wenn man nicht täglich versucht, in den Tugenden zu wachsen, bleibt man ein Zwerg.

Gegenüber den verschiedenen Wachstumsgötzen unserer Zeit gilt es, den wahren göttlichen Grund für das „mehr“ zu sehen. Es ist der „je größere Gott“ (Erich Przywara SJ) und der antwortende „je größere Mensch“, von dem Blaise Pascal einmal sagt: „Der Mensch überschreitet unendlich den Menschen“.

 

Hin-Gabe

Ignatius lebt in der Spannung von Gabe und Hin-Gabe. Wenn alles Gottes ist und unser Leben sein Geschenk, dann ist die adäquate Antwort des Menschen die Hin-Gabe. Das Hin-Gabe-Gebet am Ende der Exerzitien ist Ziel und Mitte seiner Exerzitien:

 

Nimm hin, Herr, und empfange meine ganze Freiheit,
mein Gedächtnis, meinen Verstand und meinen ganzen Willen,
meine ganze Habe und meinen Besitz;
Du hast es mir gegeben, Dir, Herr, gebe ich es zurück;
Alles ist Dein, verfüge nach Deinem ganzen Willen;
Gib mir Deine Liebe und Gnade, das ist mir genug.

 

In diesem Gebet verspüren wir den Pulsschlag von Ignatius, seine Bereitschaft, alles zu geben, aber nicht eigenmächtig. Er kleidet die Bereitschaft zur Hin-Gabe in eine Bitte. Ignatius bleibt bis zum Schluss der höfische Ritter, der sich anbietet, aber nie aufdrängt. Sein Empfangen und Hin-geben atmet die Freiheit, die im Verhältnis unter Menschen wie im Verhältnis des Menschen zu Gott in der Spannung von Nähe und Freigabe Leben und Liebe wahrhaftig erst ermöglichen.

 

 

Wer sich weiter mit Grundworten ignatianischer Spiritualität beschäftigen will,

sei das Buch empfohlen:

Willi Lambert: Aus Liebe zur Wirklichkeit, Grundworte ignatianischer Spiritualität, ISBN 978-3836703673.

 

 

Sankt Peter Köln ist eine Kirche der Jesuiten und damit verbunden mit den Jesuiten in ganz Deutschland. Die Gesellschaft Jesu in Deutschland: www.jesuiten.org.